Als Kulturnation existierte Deutschland nicht erst seit der Reichsgründung am 18. Januar 1871, sondern bereits lange zuvor. Goethe, Schiller, Beethoven, Mozart, Bach, Gutenberg, Walther von der Vogelweide, Oswald von Wolkenstein oder Hildegard von Bingen sind nur ein paar Beispiele im Lauf eines Jahrtausends.
1815/1871: Ein Volk erwacht in der Mitte Europas
Gastbeitrag
von Norman Fryre
Der Kongress europäischer Herrscher, Fürsten und Staatsmänner tagte 1815 in Wien. Napoleon I. war in Waterloo endgültig geschlagen. Seine „Hundert Tag“ jedoch waren die Stunde null eines Mythos, der den Kaiser der Franzosen bis heute umgibt. Den Atem der Geschichte glaubt man zu spüren, wenn man den Invalidendom zu Paris betritt, zu seinem Grabmal hinabblickt und sich vor dem bedeutenden Korsen verbeugen muss.
Kaum war die Ära Napoleon beendet, wurde auf dem Wiener Kongress der Versuch unternommen, diesem Kontinent eine andere Gestalt zu geben. Die Restauration feierte fröhliche Urständ‘. Das Entscheidende freilich hatte Kaiser Franz II. 1804 angerichtet, als er sich eine neue Kaiserkrone, die Österreichs, aufsetzte und zwei Jahre später die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in einer Art Staatsstreich niederlegte. Die Habsburger waren bekanntlich nur selten reichsfreundlich gewesen. Ihr Denken konzentrierte sich stattdessen auf die Erblande und das erworbene Heiratsgut. 1806 war das Ende eines den Kontinent überwölbenden eintausend Jahre bestehenden Reichsgebildes zu verzeichnen, das trotz zunehmender Schwäche einen europäischen Traum verwirklichte.

Der an des Reiches Stelle gegründete Deutsche Bund war nicht einmal ein schwacher Ersatz, zudem wurde er in den ersten Jahrzehnten von Wien entscheidend beeinflusst, das seine Mehrheiten in den deutschen Duodezfürstlichkeiten suchte und fand.

Erste Widerstandsbewegungen wurden deutlich, als am 18.Oktober 1817 auf der Wartburg anlässlich des 300.Jahrestages der Thesenanschläge Martin Luthers mehr als 500 Studenten zusammenkamen. Diese Zusammenkunft, von Urburschenschaften initiiert, entwickelte sich zu einem übergreifenden die Deutschen aufrüttelnden Protest gegen die Metternichsche Reaktion, gegen die deutsche Kleinstaaterei und für einen deutschen Nationalstaat. Nicht ohne Hintergedanken wurden aufrüttelnde Tischreden auf Luther, Scharnhorst, Schill und Theodor Körner gehalten.

Klemens Wenzel Lothar von Metternich (vollständig Clemens Wenceslaus Nepomuk Lothar, Fürst bzw. bis 1813 Graf von Metternich-Winneburg zu Beilstein; * 15. Mai 1773 in Koblenz; † 11. Juni 1859 in Wien), der österreichische Staatskanzler, der über den Deutschen Bund einen entscheidenden Einfluss ausübte, sorgte dafür, dass das sogenannte „System Metternich“ mit Zensur, Spitzelwesen und Unterdrückung der Meinungsfreiheit nicht nur im Kaisertum mit großer Energie sein Unwesen trieb, sondern auch diesseits der Grenzen. Metternichs Unterdrückungsmaßnahmen griffen Platz. Diese erinnerten bitter an Napoleons Gedankenpolizei. So nimmt es denn nicht Wunder, dass es unter Jenen, die einst im Kanonendonner gegen die Heere Napoleons gestanden hatten vom Bodensee bis Hamburg und von Aachen bis Memel unter der Oberfläche zu gären begann.

ziegelbrenner
In geheimen Zirkeln, an zahlreichen Universitäten und im Bürgertum wuchs in jenen Jahren die Verärgerung und Wut über das, was innenpolitisch nach 1815 in der Mitte Europas geschah. Die einstigen liberalen Reformer, die das Nationalgefühl in den Deutschen geweckt und gefördert hatten, wurden z.B. von Preußens Friedrich Wilhelm III. kaltgestellt. Der Freiherr vom Stein (1757-1831) etwa wurde in eine Beamtenstelle nach Nassau abgeschoben, Carl von Clausewitz (1780-1831) und August Neidhardt von Gneisenau (1760-1831) erhielten zwar militärisch gut klingende, aber letztendlich unbedeutende Stellen, bis beide an Cholera starben.
>Volksverhetzer< und Demagogenverfolgung
Der gemeinsame Kampf gegen die französische Vorherrschaft und Besatzung sowie die Zerschlagung des Alten Reiches weckten freilich in Deutschland ein bislang nie gekanntes Nationalgefühl und Nationalbewusstsein, das der Restauration nach 1815 gegen den Strich ging. Schon das Wartburgfest der Burschenschaften 1817 war den Herrschenden ein Dorn im Auge. Als dann im Frühjahr 1819 der bekannte Schriftsteller und russische Generalkonsul Kotzebue von dem Jenaer Studenten Karl Ludwig Sand ermordet wurde, läuteten bei den Regierenden die Alarmglocken. Deshalb fand im August im kaiserlichen Karlsbad zwischen Diplomaten und Ministern auf Einladung des österreichischen Außenministers und späteren Staatskanzlers Metternich ein Geheimtreffen statt, das zur Teplitzer Punktation zwischen Österreich und Preußen führte. Ende September 1819 wurden dann im Deutschen Bundestag zu Frankfurt a.M. die sog. Karlsbader Beschlüsse verabschiedet, die zum Verbot der öffentlichen Meinungsfreiheit und der Burschenschaften sowie zur Überwachung der Universitäten führten. Ferner wurden (1820-1842) die Turnplätze geschlossen. Es folgten die Zensur der Presse sowie Entlassung und Berufsverbot für liberal und nationale gesinnte Professoren, die ihre politische Einstellung ihren Studenten vermittelten, insbesondere das rüde Pressegesetz sollten die unerwünschte Verbreitung von Konzepten, Ideen und Gedanken verhindern, die damals aufrührerisch erschienen. Der als reaktionär bekannte Deutsche Bund begriff liberale und nationale Ideen als „Volksverhetzung“ und belegte sie mit seinem Bannfluch. Die Träger und Verfechter dieser Auffassungen wurden als Demagogen gebrandmarkt und verfolgt. Es gibt historisch gebildete, denkende Politikwissenschaftler die Vergleiche zwischen den Karlsbader Beschlüssen und manchen westlichen Demokratien der Gegenwart ziehen. Verfolgung und Inhaftierung unliebsamer Personen wie Ernst Moritz Arndt, Karl Marx, Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Friedrich Ludwig Jahn oder Georg Büchner folgten. Widerstand und Trotz insbesondere in jungen akademischen Kreisen und geheime > aufrührerische< Zusammenkünfte waren die Folge.

Erhard Joseph Brenzinger – Full colored illustration from 1832
Als dann 1832 auf dem Hambacher Fest mit über 30 000 Teilnehmer aus allen Teilen und allen Gesellschaftsschichten ihren Willen zu Freiheit und nationaler Einheit bekundeten, wurden die Karlsbader Beschlüsse noch einmal verschärft, die später in den Revolutionswirren 1848 am 2. April 1848 vom Deutschen Bund aufgehoben werden sollten.
1848: Das Volk steht auf
Das änderte freilich im Vormärz nichts daran, dass die Bestrebungen nach Überwindung von Kleinstaaterei und Wiedererrichtung eines gemeinsamen deutschen Staates unter Ausschluß der Öffentlichkeit immer lauter und drängender wurden. Im Frühjahr 1848 brach dann zuerst in Frankreich eine Revolution aus, die den sogenannten Bürgerkönig mit sich riss und den Aufstieg von Louis Bonaparte, dem nachmaligen Napoleon III. einleitete. Die österreichische Kaiserstadt Wien war eine der ersten Städte Mitteleuropas, in der die Revolution um sich griff. Das Haus Habsburg verließ Wien ebenso wie Fürst Metternich, der sich bei Nacht und Nebel davon schlich und zunächst nach London ins Exil ging. Auch in den deutschen Königreichen, Großherzogtümern sowie in den Kleinstaaten rumorte es, kam es zu Unruhen, Demonstrationen, Gewalttaten, Verletzten, Toten und Verhafteten, die letztendlich zur Einberufung einer Nationalversammlung im Mai in der Frankfurt er Paulskirche führten.

Ihr Ziel war die Vorbereitung einer Reichsverfassung und die Bildung eines Nationalstaates. Ziel war nunmehr eine liberale Verfassung und die Bildung eines deutschen Nationalstaates. Dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV., ältester Sohn der Königin Luise, wurde die deutsche Kaiserkrone angeboten, die dieser ablehnte, weil das Anerbieten ihm als nicht standesgemäß erschien. Letztendlich scheiterte die Paulskirche an ihrer eigenen Uneinigkeit und Machtlosigkeit. Österreich hatte sich durch eine von Kaiser Franz Josef aufoktroyierte Verfassung selbst weitgehend aus den weiteren Diskussionen um eine gemeinsame deutsche Zukunft ausgeschlossen. Der Deutsche Bund, von den Revolutionen 1848 schwer angeschlagen, wurde unter der Leitung Österreichs wieder hergestellt. In der Olmützer Punktation von 1850, verzichtete zudem Preußen auf den Führungsanspruch als deutscher Staat. Durch dieses Abkommen, verlor Preußen bedeutend an Ansehen, es trug zudem zur weiteren Zuspitzung des Gegensatzes zwischen Preußen und Österreich bei. Das wiederum führte zur Ernennung des bereits politisch sehr aktiven Otto von Bismarck zum Gesandten Preußens beim Deutschen Bundestag in Frankfurt. Der neu ernannte Diplomat vertrat gegen die Ansichten des Königs die Auffassung, Preußen müsse gegenüber Österreich nicht Juniorpartner, sondern gleichberechtigt sein. Es steht außer Zweifel, dass ihm in diesen langen Frankfurter Jahren klar wurde, dass eine deutsche Einheit mit dem Habsburgerstaat nicht zu machen war.
Die Gunst der Stunde
In diesen Jahren, wie einst nach Jena und Auerstedt 1806 versammelten sich in Preußen Köpfe, die Preußen zum Kernstaat eines künftigen Deutschlands machen wollten. Dazu zählten vor allem Moltke, von Roon und der sie umgebende Kreis. Bismarck hingegen lernte die europäischen Höfe kennen, zuerst als Gesandter in St. Petersburg, dann in Paris, verbunden mit einer längeren Studienreise nach London. In diesen Jahren (1861) traf er in Baden-Baden mit König Friedrich Wilhelm, dem jüngeren Bruder des kinderlosen Friedrich Wilhelm IV. zusammen. Er überzeugte ihn mit einer Denkschrift und einem Vortrag, dass Russland keinen Widerspruch gegen eine kleindeutsche Lösung einlegen würde. Der Diplomat aus Schönhausen kannte inzwischen die handelnden Persönlichkeiten und die Politik jener Großmächte, die Einfluss auf eine künftige Entwicklung der deutschen Dinge nehmen könnten. Dann zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt, nutzte er die wohl nicht wiederkehrende politische Ausnahmesituation, als die europäischen Großmächte mit anderen schwerwiegenden Problemen beschäftigt und in Kriege verwickelt waren: Das sich einigende Italien lag im Streit mit dem Kaisertum Österreich, das der italienische Unabhängigkeitskrieg an den Rand des wirtschaftlichen Ruins führte. Napoleon III. war hier Franz Josefs Gegenspieler. Gleichzeitig führte Frankreich Kolonialkriege und förderte die Kaiserkandidatur Erzherzogs Maximilian zum Kaiser von Mexiko. Dort wurde dieser 1867 zum Tode verurteilt und erschossen. Napoleon III. hatte mit gezinkten Karten gespielt. Russland wiederum litt noch unter den Folgen des Krimkrieges ebenso wie das viktorianische England, das in den amerikanischen Bürgerkrieg nicht involviert war, aber mit den Südstaaten sympathisierte.
Die politische Großwetterlage war also für die preußischen Deutschland- Pläne günstig, nachdem Bismarck sich innenpolitisch u.a. durch die Heeresreform freigeschwommen hatte. Darüber hinaus war es Berlin gelungen, in nur einem Jahrfünft die Deutschen aus ihrer vertrauten Biedermeierbequemlichkeit wachzurütteln und wenn schon nicht zu begeistern, dann wenigstens zu gewinnen, den deutschen Traum von 1815 nicht weiter zu träumen, sondern Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Haltung ist durchaus vergleichbar mit den Jahren nach 1810, als in fast allen Teilen der deutschen Lande sich Bewegungen bildeten, Gruppen und Grüppchen sich fanden, um gegen den fremden Besatzer tätig zu werden. Es war der oft zitierte und ebenso gefürchtete „furor teutonicus“, der die Menschen packte und sie zu kühnen Taten mitriss, die einmal zur Beseitigung einer Fremdherrschaft innerhalb weniger Jahre, zum anderen aber zur Wiederbegründung des Reiches durch das erwachte Preußen erfolgreich führten. Im letzten Jahrhundert veranlasste eine ähnliche Haltung in Mitteldeutschland die Mutigen, dem Ostberliner Regime die Stirn zu bieten, die deutsche Einheit durchzusetzen und die kommunistische Herrschaft hinwegzufegen.
Preußen hatte sich in nur weniger als einem Jahrzehnt von einem schläfrigen, mediokren, im Ausland belächelten Königreich zum Piemont eines neuen Deutschland entwickelt. Formal bestand das Reich ab dem 1. Januar 1871. Der 18. Januar war der Tag der Kaiserproklamation in Erinnerung an den 18. Januar 1701, als Friedrich von Brandenburg in Königsberg zum ersten König in Preußen gekrönt wurde.

Wilhelm Camphausen – Bismarck. Des eisernen Kanzlers Leben in annähernd 200 seltenen Bildern nebst einer Einführung. Herausgegeben von Walter Stein. Im Jahre des 100. Geburtstags Bismarcks und des großen Krieges 1915. Hermann Montanus, Verlagsbuchhandlung Siegen und Leipzig [1]
Bismarck und Napoleon III trafen sich am 2. September 1870 nach der Schlacht von Sedan in Donchery.
Zur Reichsverfassung
Die Verfassung des neuen Deutschen Reiches entsprach im Wesentlichen der des Norddeutschen aufgelösten Bundes. Bismarck soll sie in einer Nacht niedergeschrieben haben. Das Reich war ein Bundesstaat. Die Einzelstaaten behielten ihre Hoheit, verloren allerdings die Souveränität in einigen Zuständigkeiten und Institutionen. Sie waren noch Träger der Verwaltung, der Justiz und des Schulwesens im Verwaltungsföderalismus mit eigener Steuerpolitik und eigenen Einnahmen. Sie behielten ihr Wahlrecht, ihre einzelnen Verfassungen gehörten zur Gesamtverfassung des Reiches. Den Landtagen stand der Reichstag gegenüber. Außenpolitik und Militär waren in der Kompetenz des Reiches. Der Kanzler wurde zum Kern der Exekutive der Reichsregierung. Neben der Regierung stand der Bundesrat, gleichsam als Bollwerk des Föderalismus. Preußen spielte jedoch in allen Bereichen die erste Rolle. Das Deutsche Reich war föderalistisch, doch preußisch hegemonial zugleich, ein einheitlicher Nationalstaat mit monarchischen und demokratischen Elementen, doch auch ein Rechts-und Kulturstaat, sowie ein Wirtschafts-und Sozialstaat. Es war ein Nationalstaat mit einer konservativen Monarchie und einer bürgerlichen Gesellschaft. Die Umbenennung von Präsidium und Bund auf nunmehr Kaiser und Reich sollte dieses auf diplomatischem Weg zustande gekommene Verfassungskonstrukt beenden.
Das Urteil der Geschichte
Im Herbst 2020 begingen wir zum 30. Male feierlich den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik und mit einem vom Bundespräsidenten verlesenen Text erinnerte dieser auch an die Reichsgründung vor 150 Jahren. Diese verzerrten Ausführungen entsprachen nicht der damaligen Wirklichkeit und zeugen auch von historischer Unkenntnis der Redenschreiber.
Vergleicht man einmal das Kaiserreich von 1901 mit der Bundesrepublik 2021, erinnert man sich an einen aufblühenden Staat der demographisch zu den jüngsten Ländern der Welt zählte, der in Wissenschaft und Forschung, in Kultur, Sport und Literatur eine Spitzenstellungen in der Welt einnahm, der wirtschaftlich von europäischen und außereuropäischen Mitbewerbern beneidet wurde. „Made in Germany“ war ein Gütesigel der Extraklasse und war heiß begehrt, sehr zum Leidwesen anderer Industrienationen. Ein Vergleich mit den Zuständen im heutigen Deutschland wäre eine Beleidigung für das Kaiserreich, dem der deutsche Bundespräsident glaubte die Ehre abschneiden zu können. Wer nicht nur aus den Chefetagen der Bundespolitik schaut, sondern auch in Seitenstraßen blickt, wird Rentner sehen, die Flaschen sammeln müssen um ein paar Cents für eine warme Mahlzeit zu verdienen oder Obdachlose, die abends nach freien Plätzen unter Brücken oder in Bahnhöfen suchen müssen.
Die Begeisterung jedoch all derer, die jahrzehntelang für die Einheit gekämpft hatten, kannte nach dem 18. Januar 1871 keine Grenzen. In einem Brief, den der damals 53jährige nationalliberale Bonner Historiker Heinrich von Sybel an den gleichgesinnten Historikerkollegen Hermann Baumgarten schrieb, ließ er seiner Begeisterung freien Lauf:> Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient so große und mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird man nachher leben? Was 20 Jahre der Inhalt alles Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun in so unendlich herrlicher Weise erfüllt. Woher soll man in meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das weitere Leben nehmen? <
Ein Gedanke zu „Die Reichsgründung 1871 und ihre Vorgeschichte“
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